62 Prozent
– um diesen Wert hat sich der Kaufpreis einer Neubauwohnung in Stuttgart von 2010 bis 2015 verteuert. Da mit liegt die Stadt bundesweit an der
Spitze. Bezogen auf die absoluten Preise rangiert Stuttgart inzwischen deutschlandweit auf Rang zwei hinter München.
Fragt man nach den Gründen für diesen ungewöhnlichen Immobilienboom, erhält man meist ein und dieselbe Antwort: Das Angebot ist gering, die Nach
frage hingegen enorm hoch. Das treibt die Preise. Soweit sind sich die Experten einig. Doch was die Auswirkungen an geht, gehen die Meinungen deutlich aus
einander. Eine der Folgen ist mit Sicher heit, dass sich Menschen mit geringem bis durchschnittlichem Einkommen den Traum von den eigenen vier Wänden
kaum mehr erfüllen können.
Wer nicht kaufen will, der muss mieten. Doch auch hier steigen die Preise konstant an – in aller Regel deutlich schneller als die Einkommen.
„Hier läuft etwas gründlich aus dem Ruder“, analysiert etwa Tilman Harlander, der ehemalige Dekan der Architekturfakultät der Universität Stuttgart. Er
sieht die Wohnungsnot als Standort nachteil, da die Stadt für Normalverdiener zu teuer wird.
Doch wenn Mieten und Kaufpreise in unerschwingliche Höhen steigen, wo bleiben die Proteste? Aus Harlanders Sicht hat das etwas mit Scham zu tun.
„Wir haben mit dem Siegeszug der Leistungsgesellschaft in den vergangenen 30 Jahren zugleich einen Prozess der Individualisierung erlebt“, sagt der Wohn-
soziologe. Dadurch sei es zwar zum einen zu einer enormen Vielfalt individueller Wohnformen gekommen, so Harlander weiter. „Auf der anderen Seite
empfinden viele Menschen aber Krisen wie die gegenwärtige Wohnungskrise nicht als Systemkrisen oder Politikversagen, sondern als persönliches Ver-
sagen.“
Robert Göötz hat einen anderen Blick auf die Situation. Er ist Professor für Immobilienwirtschaft an der Hochschule NürtingenGeislingen. „Der Markt
kommt derzeit zum Erliegen“, sagt er. Diejenigen, die bereits eine Wohnung haben, machten diese nicht mehr frei, so seine Analyse. „Der Besitzstand wird
gewahrt“, erklärt er. Die Nachfrage steigt an, die Zahl der Umzüge wird jedoch weniger. „Als Ergebnis wird die Wohnung als Statussymbol wahrgenommen.
Dahinter liegen aber volkswirtschaftliche Prozesse“, erklärt Göötz.
Der Experte erklärt diese Entwicklung so: „Auch wer seine finanzielle Situation verbessert, zieht nicht wie früher in eine bessere oder größere Miet-
wohnung oder sucht sich vielleicht sogar ein Eigenheim.“ Da die Preise schneller steigen als die Einkommen, würden die Menschen ihre Wohnsituation
auch durch einen Umzug in eine teurere Wohnung nicht zwangsläufig verbessern. Denn: „Für mehr Geld gibt es nicht mehr Wohnung.“ Wissen-
schaftlich ausgedrückt klingt das so: „Die Subjekte bewegen sich nicht mehr, obwohl die Kaufkraft steigt.“
Sein Fazit: „Am Ende platzt die Blase oder das Angebot an Wohnungen muss deutlich erweitert werden.“ Will heißen: Werden in naher Zukunft nicht deutlich
mehr neue Wohnungen gebaut, um der enormen Nachfrage gerecht zu werden, könnte die Situation aus Sicht des Immobilienfachmanns gefährlich werden.
„Eine Immobilienblase kann plötzlich platzen oder die Luft kann langsam entweichen – der Fachbegriff lautet ,Soft Landing‘, also weiche Landung“, erklärt er.
Zu einem plötzlichen Platzen kommt es dann, wenn die Mieter nicht mehr zahlen können und die potenziellen Käufer das Gefühl bekommen, die Ende der Preis
spirale sei erreicht, und auf fallende Preise hoffen. „Dann gibt es auf einmal keine Käufer mehr und die Preise stürzen ab“, erklärt Robert Göötz.
Zur weichen Landung kommt es hingegen dann, wenn die Fehlentwicklungen, die zu einem überhitzten Markt geführt haben, langsam und behutsam korrigiert
werden. „Das bedeutet, dass etwa die Zinsen Stück für Stück angehoben werden“, erklärt der Experte. „Die Anleger ziehen ihr Geld dann langsam aus dem
Immobilienmarkt ab und investieren ihr Kapital an anderer Stelle.“ Die Folge sind stagnierende oder zumindest nur langsam fallende Preise.
Wie die Entwicklung bei uns weitergeht, da will sich Robert Göötz nicht endgültig festlegen. Nur so viel: „Ich sehe im Moment einige Anzeichen für die weiche
Landung.“
Egal, wie verschieden die Ansichten sind, egal, welche Experten befragt werden – fest steht: So richtig gesund scheint die Entwicklung auf dem Immobilien-
markt derzeit nicht zu sein.
Das Interview führte Sven Hahn von der Stuttgarter Zeitung; erschienen am 11.02.2017 in der Stuttgarter Zeitung.